Interview mit Fabiola Jean Pierre

Startseite » News und Aktuelles » Interview mit Fabiola Jean Pierre

Fabiola Jean Pierre – das spannende Leben als Orthopädietechnikerin bei medi for help in Haiti

Nach dem Erdbeben in Haiti im Januar 2010 rief medi das Hilfsprojekt medi for help ins Leben. In enger Zusammenarbeit mit dem Hôpital Albert Schweitzer wollte man den Opfern des Bebens unbürokratisch vor Ort helfen und Bedürftige mit Beinprothesen versorgen. Schnell entwickelte sich die eigens dafür eingerichtete Werkstatt zur größten orthopädietechnischen Anlaufstelle der Karibik. Heute umfasst das Versorgungsspektrum im Wesentlichen traumatologische und orthopädische Fälle. Bisher wurden über 7.000 Patienten versorgt. Fabiola Jean Pierre, seit 2016 Orthopädietechnikerin bei medi for help und seit 2017 unsere Werkstattleiterin in Deschapelles, berichtet im Interview über ihre Erfahrungen und das Leben in Haiti.

Fabiola Jean Pierre

Fabiola, du bist seit 5 Jahren im Orthopädie-Versorgungszentrum medi for help in Deschapelles beschäftigt. Was ist das Besondere an diesem Projekt?

Ich danke Gott und medi for help für diese tolle Gelegenheit, die sie dem haitianischen Volk, meinem Team und mir gegeben haben. Dies ist etwas ganz Besonderes, weil die orthopädische Versorgung viel Geld kostet. Hier in Haiti haben die Menschen kein Geld, um eine Prothese oder eine Orthese zu erhalten. Aber mit der Hilfe des Versorgungszentrums medi for help und dem Hôpital Albert Schweitzer in Deschapelles erhalten sie eine Chance.

Aufstände in Haiti

Gewaltsame Aufstände der politischen Opposition bestimmen seit einigen Jahren das Leben in Haiti. Auch jetzt sind immer wieder Straßen blockiert, Transporte von Lebensmitteln, Treibstoffen und sogar Trinkwasser sind oft unmöglich. Welche Herausforderungen ergaben sich für dich in dieser Zeit? Und wie wurden sie gelöst?

Die größte Herausforderung, der ich gegenübergestanden habe, war, wenn wir Zeit ohne Material verbringen mussten, um die Patienten zu versorgen. Sie hören nicht auf, ihre Probleme zu erklären. Sie benötigen Reparaturen und Nachpassungen. Sie brauchen nach einiger Zeit Neuversorgungen. Viele Kinder die aus ihrem Hilfsmittel herausgewachsen sind. Wenn wir dann zeitweise nicht das notwendige Material hatten, um ihnen zu helfen warteten sie geduldig. Sie haben kein Geld und können nirgendwo hin gehen. Normalerweise löse ich diese Probleme, indem ich meine Kollegen aus anderen Werkstätten anrufe, um Materialien auszuleihen bzw. zu tauschen und zurückzugeben, wenn ich wieder Vorrat habe.

Wie gefällt dir die Arbeit mit dem Team?

Ich arbeite gerne mit diesem Team, gemeinsam können wir alles reibungsloser gestalten und erfolgreicher sein. Mit dem aktuellen Team fühle ich mich sehr verbunden. Wir sind eine Einheit und motiviert, gemeinsam unsere haitianischen Brüder und Schwestern zu unterstützen. Jeder kennt seinen Job und macht ihn mit Leidenschaft und Freude. Wir leben wie eine Familie und respektieren uns gegenseitig.

Wie sieht dein typischer Arbeitstag aus?

Ich stehe um 7.00 Uhr morgens auf, frühstücke und gehe in die Klinik. Wir öffnen um 8.00 Uhr. Wenn ich in die Werkstatt komme, überprüfe ich meine E-Mails. Danach unterhalte ich mich mit meinen Technikern über neue Patienten aus der Physiotherapie, wir bewerten sie gemeinsam und nehmen Gipsabdrücke. Ich unterstütze mein Team bei den anstehenden Arbeiten. Am späten Nachmittag erledige ich einige Verwaltungsarbeiten, wie das Überprüfen des Lagerbestandsann stellen wir die Anforderung für den nächsten Tag zusammen, bevor wir um 17:00 Uhr schließen.

Ein Teil des Teams

Wie ist die allgemeine und medizinische Realität der Versorgung in Haiti?

Es gibt nicht genügend Krankenhäuser, in denen qualifizierte Ärzte oder Krankenschwestern für die Versorgung kranker Menschen zur Verfügung stehen. Deshalb leiden die meisten Patienten sehr lange, bis sie wegen mangelnder medizinischer Versorgung doch früh sterben. Das Schlimmste ist, dass dort, wo es ein funktionierendes Krankenhaus gibt, Menschen dennoch keine Hilfe erhalten, weil es zu teuer ist. Gott sei Dank gibt es das Albert Schweitzer Hôpital. Hier hilft man auch den Menschen, die es sich nicht leisten können.

Was sind die Unterschiede zwischen ländlichen Gebieten, wie Deschapelles und den Städten?

Die Menschen in den ländlichen Gebieten kennen sich und halten mehr zusammen. Einige essen zusammen, und wenn sie ein Problem haben, lösen sie es gemeinsam. Auf dem Land ist es sicherer im Vergleich zu den Städten, wo sich jeder nur um sich kümmert. Außerdem sind die Temperaturen niedriger, während in den Städten die Hitze brütet.

Welcher Moment in den letzten 5 Jahren war für dich am emotionalsten? Was wirst du besonders in Erinnerung behalten?

Ich habe einen kleinen Jungen versorgt, er heißt Ronel und hat einen zertrümmerten Oberschenkel. Er war sehr motiviert und sagte, dass er wieder zur Schule gehen will. Das hat mich so gefreut. Gleich am ersten Tag nach der Versorgung war er wieder aktiv. In diesem Moment war ich sehr glücklich und stolz auf das, was ich tue.

Jetzt medi for help und
Fabiola Jean Pierre unterstützen!

Wie erlebst du die aktuelle Corona-Pandemie?

In meinem Land Haiti gab und gibt es keine ausreichende medizinische Versorgung, um uns vor diesem Virus und der damit verbundenen Krankheit zu schützen. Erstmal habe ich Gott für seinen Schutz gedankt. Als die Pandemie begann, hatte ich gerade ein zwei Monate altes Mädchen. Ich musste sie und mich vor dieser Gefahr schützen und blieb deshalb eineinhalb Monate zu Hause. Es war sehr schwer für mich, als ich wieder zur Arbeit musste, wo viele Menschen aus verschiedenen Orten zusammenkommen. Diese Zeit war so unsicher, so voller Stress und Angst. Glücklicherweise wurde alles befolgt, was das Gesundheitsministerium geraten hatte, um vor der Pandemie geschützt zu sein. Ich bin von diesem Moment an sehr erwachsen geworden.

Hat die Corona-Pandemie das medi for help Versorgungszentrum betroffen?

Das orthopädische Versorgungszentrum war nicht allzu stark betroffen, da es zur Vorbeugung geschlossen wurde und keiner von uns das Virus hatte.

Was magst du am meisten an Haiti, den Menschen und dem Leben in deinem Land?

Am besten gefallen mir unsere Temperatur und das Herz der Menschen.

Was wünschst du dir für Haiti?

Im Moment wünsche ich nur eines: „Sicherheit“. Ich arbeite ungefähr fünf Stunden – manchmal noch mehr – von meiner Familie entfernt in Deschapelles. Ich würde sie gerne jedes Wochenende sehen, aber ich habe Angst, allein zu reisen, Angst vor Entführung, brennenden Reifen und Schusswaffen. Deswegen muss ich warten, bis ich mit dem Auto des Krankenhauses eine Fahrt bekomme, das ist nicht fair!

Auf welche Ergebnisse bist du besonders stolz, wenn du auf deine Zeit als Orthopädietechnikerin in Haiti zurückblickst?

Seit ich ein kleines Mädchen war, wollte ich nützlich sein und anderen helfen. Jetzt bin ich stolz darauf, eine Orthopädietechnikerin zu sein, auch wenn es für viele Haitianer neu ist. Ich bin dadurch Erwachsener geworden, was mich sehr stolz macht! Wenn Menschen mit Behinderungen weinend und traurig zur Behandlung kommen, sie dann lächelnd nach Hause gehen und wieder das tun können, was sie früher getan haben – dann ist das für mich das Größte.

Liebe Fabiola, danke für das Interview!