Leonie Zeiger wird eine Urkunde von medi for help ueberreicht

Interview mit Orthopädietechnikerin Leonie Zieger

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Volontäre, die sich unentgeltlich für das Hilfsprojekt medi for help (mfh) engagieren, bleiben üblicherweise zwei bis drei Wochen in Deschapelles. Leonie Zieger (25) blieb gleich zwei Monate. Die gebürtige Dortmunderin versorgte dabei nicht nur Patienten mit Beinprothesen, sondern leitete auch für drei Wochen die mfh Werkstatt. Welche Erfahrungen Sie dabei machte und was die besonderen Herausforderungen waren, erzählte Sie uns nach ihrer Rückkehr.

Frau Zieger, wie wurden Sie auf medi for help aufmerksam?

Ich hatte schon immer Interesse an interkulturellen Projekten. Deshalb habe ich im Internet recherchiert und nach interessanten Aufgaben gesucht. Ich stellte allerdings fest, dass Orthopädietechniker eher selten gesucht werden. Als ich dann auf die Seite von medi for help gestoßen bin, war ich schnell von diesem Projekt überzeugt. Vor allem das Ziel, Hilfe zur Selbsthilfe leisten zu wollen, ist für mich ein wichtiger Ansatz. Deshalb wollte ich mich für mfh engagieren.

Was haben Ihre Familie und Ihr Arbeitgeber dazu gesagt?

Während meine Mutter die Idee, in Haiti zu helfen, sofort gut fand, war mein Vater doch eher skeptisch. Die Berichterstattung aus Haiti hat ihn nicht unbedingt dazu veranlasst, in Jubel auszubrechen. Die Zurückhaltung legte sich aber mit der Zeit und drehte in volle Unterstützung. Als selbstständiger Orthopädietechniker-Meister hat er mir sogar noch einen Crashkurs in Arm-Amputationstechnik gegeben und die Flugtickets gezahlt. Dafür nochmal vielen Dank (auch vom gesamten mfh-Team, Anm. d. Red.)!

Sie waren zwischen dem 3. Februar und 4. April in Haiti als Volontär tätig. War es so, wie Sie es sich vorgestellt haben?

Ich muss ehrlich sagen, dass es anfangs für mich ein echter Kulturschock war. Man versucht im Vorfeld, sich so gut es geht auf so eine Aufgabe vorzubereiten, aber schließlich hat mich nicht nur das Ausmaß der Armut überrascht, auch mit einzelnen Reaktionen der Haitianer musste ich erst einmal klar kommen. Als beispielsweise Kinder vor mir Angst hatten und weinten, weil sie noch nie zuvor eine weiße Frau gesehen hatten, das war schon ein Moment, den ich so nicht unbedingt erwartet hatte.
Andererseits war ich von der freundlichen und entspannten Aufnahme durch das Werkstatt-Team positiv überrascht. Hier hatte ich eher mit gewissen Vorurteilen gerechnet. Das war aber überhaupt nicht so und wir hatten ein tolles Arbeitsklima. Selbst als ich die Leitung für einige Wochen übernahm, wurde ich sofort als Werkstattleiterin von den anderen vier Technikern akzeptiert. Dafür bin ich dem Team sehr dankbar.

Wie kann man sich Ihren Alltag vorstellen?

Um 7 Uhr gab es in der Bibliothek des benachbarten Krankenhauses ein tägliches Medical Meeting. Dort trafen sich Ärzte, medizinische Leitung und Physiotherapeuten zum Erfahrungsaustausch. Damit startete meistens mein Tag. Ich bekam hier viel über Verletzungen und Behandlungsmethoden mit. Zudem wurden interessante Vorträge über verschiedene medizinische Themenbereiche gehalten. Gegen 8 Uhr war ich dann in der Werkstatt und nahm die alltägliche Arbeit auf. Es mussten Prothesen justiert, Gipsabdrücke gefertigt, Orthesen oder Prothesen hergestellt werden. Das offizielle Ende der Patienten-Behandlung war gegen 16.30 Uhr. Meistens haben wir im Anschluss noch die Gipsabdrücke ausgegossen oder die Rohlinge modelliert. Gegen 18 Uhr war dann Feierabend.

Gab es noch viele Erdbebenopfer, die erstversorgt werden mussten?

Es gab tatsächlich noch vereinzelt Menschen, die noch keine beinprothetische Versorgung nach dem Erdbeben 2010 bekommen hatten. Diese Fälle sind allerdings die Minderheit. Heute machen Verkehrsunfälle rund die Hälfte der Patienten aus. Hinzu kommen viele Diabetiker, denen unter anderem als Folge der Mangelernährung die unteren Extremitäten abgenommen wurden.

Was waren besondere Herausforderungen vor Ort?

Ich kann mich gut an eine Patientin erinnern, die sich auf keinen Fall von mir behandeln lassen wollte. Eine Prothese von einer weißen Frau zu bekommen, war für diese Patienten unvorstellbar. Damit muss man umgehen können. Ein haitianischer Kollege hat sie dann versorgt.

Sie waren ja für drei Wochen auch verantwortlich für die Werkstatt. Wie war diese Erfahrung für Sie?

Wie eingangs schon erwähnt, war es für meine haitianischen Kollegen kein Problem, dass eine Frau die Leitung übernimmt. Durch den ständigen Austausch der Volontäre, unter denen ja auch öfter Frauen sind, wissen sie, dass es in den westlichen Ländern normal ist, dass Frauen und Männer gleichgestellt sind und zusammenarbeiten. Außerdem hatte ich die ersten vier Wochen genug Zeit mich einzuarbeiten und mich mit dem Team bekannt zu machen.

Was waren die bemerkenswertesten Ereignisse in Haiti?

Ein kleiner Junge im Alter von etwa zwei Jahren kam eines Tages zu uns in die Werkstatt. Ihm wurde bei einem Motorradunfall das Bein abgetrennt. Ihm passten wir eine Knieex-Versorgung an. Allerdings fehlten uns die entsprechenden PE-Platten zum Tiefziehen. Also mussten wir improvisieren und haben dann zwei Platten miteinander verbunden, indem wir sie übereinandergelegt im Ofen erhitzt haben. Das funktionierte auch einwandfrei. Den kleinen Jungen mit seiner Prothese die ersten Schritte gehen zu sehen, war ein unglaublich schöner Moment.
Ein anderes Erlebnis entstand durch meine Kontakte zu einem amerikanischen Chirurgenteam. Dadurch konnte ich bei einer Beinamputation assistieren und Einblicke in die Operationstechnik sammeln. Im Anschluss habe ich die komplette beinprothetische Versorgung des jungen Mannes übernommen, bis zur Anprobe im Krankenhaus. Auch hier waren die ersten erfolgreichen Gehversuche des Patienten sehr bewegend. Beides tolle Erfahrungen, bei denen ich sehr viel gelernt habe.

Wie hat sich das Projekt „medi for help“ auf Ihre Einstellung zu Ihrem Beruf und Ihrem Leben allgemein ausgewirkt?

Die Relevanz von Problemen hat sich verschoben. Was man in Deutschland als Problem betrachtet, ist oftmals nichts im Gegensatz zu den Herausforderungen in Haiti. Wenn man dann die Gelassenheit und die Lebensfreude der Haitianer sieht, ist das nur bemerkenswert. Ich hoffe, mir ein Stück dieser Einstellung langfristig bewahren zu können.

Wie sieht ihr Resümee hinsichtlich der Zeit in Haiti aus?

Absolut positiv. Ich konnte nach kurzer Zeit viel Verantwortung übernehmen, viele neue Erkenntnisse und wertvolle Erfahrungen sammeln. Gedanklich bin ich immer noch in Haiti bei den Patienten und dem tollen Team, das mich so offen empfangen hat und mit dem ich viele schöne Momente erleben durfte.

Würden Sie noch einmal in ein Krisengebiet fahren um zu helfen?
Ohne Einschränkung: Ja!

Liebe Frau Zieger, vielen Dank für das Interview und Ihren Einsatz in Haiti. Für Ihre Zukunft wünscht Ihnen das gesamte mfh Team alles Gute.

Zur Person:

Leonie Zieger absolvierte ihre Ausbildung zur Orthopädietechnikerin beim mediteam in Bamberg. Im Ausland arbeitete Sie bereits in Marseille und Toulon. Ab August wird sie den 3. und 4. Teil der Meisterprüfung an der IHK Dortmund absolvieren.