„Unser Team besteht aus Improvisationstalenten“
medi for help bleibt dran – Hilfe zur Selbsthilfe in unruhigen Zeiten
Im Januar 2010 erschütterte ein schweres Erdbeben den Karibikstaat Haiti: Mehr als 200.000 Menschen verloren ihr Leben, über 300.000 wurden teils schwer verletzt. Das war die Initialzündung für medi for help. Inzwischen wurden mehr als 7.500 Patienten versorgt, einheimische Techniker ausgebildet und sogar eine haitianische Werkstattleitung gefunden – für eine nachhaltige Unterstützung.
Eine „mobile Klinik“ erleichtert mittlerweile die Versorgung vor Ort und macht es den Haitianern im Umland oft erst möglich, medizinische Hilfe zu bekommen. Auch bei der Behandlung von chronischen Wunden und Lympherkrankungen unterstützt medi for help inzwischen und bildet gemeinsam mit der Universität in Léogâne Krankenschwestern aus. Projektleiter Christoph Schmitz von medi berichtet im Interview von aktuellen Zielen und warum Unterstützung in Haiti gerade jetzt so wertvoll ist.
Herr Schmitz, „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist das Ziel von medi for help – warum ist nachhaltige Unterstützung in Haiti noch immer so wichtig?
„Die Menschen in Haiti haben sich noch lange nicht von der Katastrophe 2010 erholt. Das Land kommt nicht zur Ruhe. Immer wieder führen Wirbelstürme oder soziale Unruhen zu chaotischen Zuständen und das Entwicklungsland steht vor vielen Herausforderungen. Ohne Unterstützung von extern hätten viele Menschen vor Ort keinen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Noch immer gibt es viele Patienten mit Verletzungen an den Extremitäten oder schweren Traumata durch Verkehrsunfälle. Unsere medi for help Werkstatt ist das einzige Angebot für die Betroffenen vor Ort. Die Menschen sind auf unsere Hilfe angewiesen – vielleicht mehr denn je. Dabei setzen wir auf die Zusammenarbeit mit unserem Kooperationspartner, dem Hôpital Albert Schweitzer. So stellen wir sicher, dass unsere Mittel in nachhaltige Förderung fließen. Und die enge Zusammenarbeit macht die effektive Unterstützung überhaupt erst möglich: Nur mit Partnern vor Ort, die die kulturellen Gegebenheiten kennen und die Lage richtig einschätzen, kommt unsere Hilfe dort an, wo sie benötigt wird. Besonders stolz sind wir deshalb, dass wir die Werkstattleitung 2017 in haitianische Hände übergeben haben.“
Speziell in diesem Jahr gab es in Haiti viele Unruhen. Was bedeutet das für medi for help?
„Im Jahr 2019 haben wir die instabile Lage sehr deutlich gespürt. Es gab viele politische Unruhen und vor Ort zeichnet sich ein erschreckendes Bild: Autos brennen, es gibt oft weder Wasser noch Strom, das Land wird zum rechtsfreien Raum. Das macht Besuche und Transporte extrem unsicher, die Logistik ist nur schwer aufrecht zu erhalten. Ein vor Monaten von uns entsendeter Container voller Hilfsmittel befindet sich beispielsweise noch immer auf dem Weg nach Haiti. Doch die Werkstatt braucht dringend Materialien. Umso mehr freuen wir uns, dass wir die Versorgungszahlen weiter stabil halten. Unser Team vor Ort besteht zum Glück aus echten Improvisationstalenten, die in diesen schwierigen Zeiten kreativ werden und maximalen Nutzen aus unseren Vorräten schöpfen. Wir mussten 2019 außerdem geplante Besuche verschieben und unser Volunteer-Programm, bei dem ausgebildete Orthopädieschuhtechniker vor Ort unterstützen, pausiert aktuell. Zu unsicher ist die Lage vor Ort und das Auswärtige Amt rät dringend von der Einreise ab. Gerade deshalb ist es uns wichtig, am Ball zu bleiben. Viele Organisationen ziehen sich zurück und auch die Medienaufmerksamkeit für das Krisengebiet sinkt. Wir sind davon überzeugt, dass gerade jetzt unser Support extrem wertvoll ist.“
Welche Pläne und Wünsche haben Sie für die Zukunft des Hilfsprojektes?
„Aktuell stellen wir die Kooperation für die Zukunft auf, um die medi for help Geschichte auch unter den neuen Rahmenbedingungen erfolgreich fortzuschreiben. Neben der prothetischen Versorgung möchten wir unser lymphologisches Angebot ausweiten, Schulungskonzepte erarbeiten und Fachkräfte vor Ort ausbilden. Wir wünschen uns für medi for help und die Menschen in Haiti, dass sich die politische und soziale Lage stabilisiert. Unser Traum ist es, die Qualität der Versorgung weiter zu verbessern und regional auszubauen, zum Beispiel mit unserer „mobile clinic“. Denn der Zugang zu medizinischer Hilfe ist nach wie vor eines der größten Probleme für die Menschen vor Ort, insbesondere aus dem Umland. Kurz: In einem stabileren Umfeld unser Angebot nachhaltig festigen und regional ausweiten. Das wollen wir mit medi for help gemeinsam weiter anpacken.“
Herr Schmitz, vielen Dank für das Gespräch.
Ausnahmezustand in Haiti1
Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre: Etwa 80% der Haitianer müssen von weniger als 2 US-Dollar am Tag leben, die Hälfte der Bevölkerung muss sogar mit weniger als 1 US-Dollar pro Tag auskommen. Das Land ist in hohem Maße abhängig von humanitärer, finanzieller und technischer Hilfe aus dem Ausland sowie von den Überweisungen der Auslandshaitianer an Familienangehörige. Die politische und soziale Lage im Land ist sehr angespannt. Seit Februar 2019 haben landesweite Protestaktionen weiter zugenommen, mit denen der Rücktritt des Präsidenten erzwungen werden soll. In der Bevölkerung nimmt der Unmut über Korruption und Verschwendung staatlicher Mittel zu. In der Folge kommt es immer wieder zu heftigen Protesten. Gewalttätige Unruhen haben sich aufgrund der andauernden instabilen Lage in Port-au-Prince und einigen Provinzstädten seit Anfang September 2019 deutlich verschärft. Es kommt wiederholt zu erheblichen Verkehrsbeeinträchtigungen durch zum Teil brennende Straßenblockaden sowie zu stärkeren Engpässen in der Wasser-, Lebensmittel- sowie Benzinversorgung.
1 Haiti: Reise- und Sicherheitshinweise. Online veröffentlicht unter: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/haiti-node/haitisicherheit/205048 (Letzter Zugriff am 15.11.2019).