medi for help hat einen neuen Werkstattleiter in Haiti
Interview mit Orthopädietechniker-Meister Ralf Jungblut
Den ersten persönlichen Eindruck von der Arbeit bei medi for help verschaffte sich Ralf Jungblut bereits im Sommer dieses Jahres. Damals absolvierte der 55-jährige Orthopädietechniker-Meister ein zweiwöchiges Volontariat für das Hilfsprojekt. Seit dem 28. Oktober ist er wieder in Haiti. Für ein Jahr. Seine Aufgaben: Die Leitung der Prothesenwerkstatt in Deschapelles sowie die Koordination der Niederlassung in Port-au-Prince. Vor seiner Abreise gab er medi for help ein Interview und erzählte unter anderem, was ihn zu diesem Engagement bewogen hat und welche Ziele er erreichen möchte. Herr Jungblut, Sie leiten ab November die Werkstatt von medi for help in Haiti.
Wie sind Sie auf das Projekt aufmerksam geworden?
Ich habe das erste Mal vor rund vier Jahren über die Medien von dem Hilfsprojekt erfahren. Seitdem verfolge ich die Entwicklung von medi for help sehr interessiert aus der Distanz und bin begeistert, was im Laufe der Zeit passiert ist. Ich wollte schon vor zwei Jahren als Werkstattleiter nach Haiti. Damals hat es aus verschiedenen Gründen nicht geklappt. Es freut mich heute umso mehr, dass ich ab November für ein Jahr Teil des Projekts sein darf.
Im Sommer waren Sie bereits für zwei Wochen als Volontär für medi for help in Haiti tätig. Was hat Sie während dieser Zeit am meisten beeindruckt?
Zum einen hat mich die Landschaft fasziniert, zum anderen die Umstände, unter denen der Tagesrhythmus der Menschen abläuft. Der ist im Vergleich zu Deutschland sehr unterschiedlich. Einen Wecker brauchte ich beispielsweise nicht, da jeden Morgen um vier Uhr früh der Hahn krähte (lacht). Das ist man hierzulande nicht unbedingt gewohnt. Hinzu kommen die neuen Gerüche, das Klima, die Natur und natürlich die Freundlichkeit der Menschen. Trotz der zahlreichen Schwierigkeiten tragen sie eine Freundlichkeit in sich, die bewundernswert ist. Die Lebensumstände der Haitianer sind äußerst einfach, dennoch sieht man den Menschen die Mühe, die täglichen Hürden zu überwinden, nicht an. Improvisation wird dort groß geschrieben.
Wie einfach ist es, Kontakt zu den Haitianern zu knüpfen?
Sehr einfach. Ich wurde als hellhäutiger Europäer positiv begrüßt und auch schnell ins Herz geschlossen. Nach dem Kennenlernen der Kollegen in der Werkstatt, habe ich mich jeden Tag gefreut, mit ihnen zusammen die Patienten zu versorgen. Die Zusammenarbeit hat in den zwei Wochen sehr viel Spaß gemacht und war eine tolle Erfahrung.
Welche Art von Versorgung haben Sie dort durchgeführt?
Hauptsächlich haben wir Orthesen-Versorgungen, speziell mit Beinorthesen, durchgeführt.
Gab es dabei besondere Herausforderungen?
Da nicht immer alle Materialien zur Verfügung standen, wurde ab und zu improvisiert. Beispielsweise ist uns das Gießharz ausgegangen. Dann haben wir die Versorgung eben auf Polyethylen-Material umgestellt. Das hat genauso gut funktioniert. Es ist überraschend, was alles geht, wenn man es einfach probiert.
Wenn man den Arbeitsalltag in Deutschland mit dem in Haiti vergleicht, was sind die größten Unterschiede?
Es gibt keine Krankenkassen (lacht). Den ganzen administrativen Aufwand, der hierzulande betrieben wird, gibt es dort nicht. Natürlich werden auch in Haiti Behandlungsabläufe dokumentiert oder Patientendateien geführt. Das findet aber in überschaubarem Maße statt. Die meiste Zeit kann man sich wirklich um die Patienten kümmern, Versorgungen herstellen, sich mit Kollegen austauschen und Behandlungen umsetzen. Das ist der größte Unterschied und aus meiner Sicht echter Luxus.
Wie sieht es mit der Ausstattung der Werkstatt aus? Gibt es da Einschränkungen?
Nein. Die Werkstatt und auch die Materialien, wenn alle da sind, unterscheiden sich in Deschapelles nicht von denen in Deutschland. Etwas gewöhnungsbedürftig ist die Verwendung des metrischen und des amerikanischen Maßsystems. Aber auch das hat man nach kurzer Zeit im Griff.
Die Beinamputationen sind ja mittlerweile nicht mehr nur auf das Erdbeben von 2010 zurückzuführen. Welche Ursachen gibt es noch?
Auffällig sind die schweren Motorrad- und Autounfälle. Das ist in Haiti wirklich ein Problem. Die Straßen sind relativ schlecht und die Fahrweise oft, nun ja, abenteuerlich. Beides zusammen führt dann häufig zu schlimmen Unfällen, die nicht selten Amputationen zur Folge haben.
Sie gehen jetzt für ein Jahr als Werkstattleiter nach Haiti. Was ist für Sie der Reiz, in einem Krisengebiet zu arbeiten?
Auch wenn sich das jetzt vielleicht etwas pathetisch anhört, ich möchte etwas Gutes tun und den Menschen in dieser Region helfen. Das ist die Hauptmotivation. Hinzu kommt, dass dieser Einsatz eine große Chance für mich ist, den eigenen Horizont zu erweitern und mein Knowhow auf ein neues Level zu heben. Ein fremdes Land mit seiner Kultur und seinen Menschen bietet viel Potenzial, sich sowohl beruflich, als auch persönlich weiterzuentwickeln. Von daher freue ich mich auf die Arbeit in der Werkstatt und auf die vielen neuen Erfahrungen.
Wie war die Zusammenarbeit mit den internationalen Kollegen?
Ausgezeichnet. Es gab beispielsweise jeden Tag in dem Albert Schweitzer Hôpital einen Morning Report. Das ist eine kurze Zusammenfassung aller Vorkommnisse vom Vortag aus den verschiedenen Abteilungen. Im Anschluss bot sich für eine der Abteilungen noch die Möglichkeit, einen zusätzlichen, 15-minütigen Vortrag zu halten. Das war in der Regel eine Power-Point-Präsentation, die auf Englisch und Französisch von einem der Ärzte aus Haiti, Europa, Amerika, oder Kanada gehalten wurde. Darin stellte der jeweilige Mediziner kurz sich und sein Fachgebiet vor und erklärte, welche Behandlung er gerade betreut. Dadurch erhielten wir einen spannenden Ein- und Überblick über sämtliche Bereiche und deren Behandlungsmethoden. Auch sonst arbeiteten alle eng zusammen. Man tauschte sich aus, gab Tipps und half sich, wenn es einmal Probleme gab. Nicht zuletzt wegen der interdisziplinären Zusammensetzung des Teams, liefen die Prozesse reibungslos ab. Das war auch eine der besten Erfahrungen während meines Volontariats.
Sie haben die Arbeit der aktuellen Werkstattleiterin Cornelia Köhler kennengelernt. Welche Aufgaben wollen Sie fortführen, welche eigenen Schwerpunkte wollen Sie setzen beziehungsweise Projekte umsetzen?
Zuerst einmal möchte ich die super Arbeit, die Cornelia geleistet hat, übernehmen und mich in das Aufgabengebiet des Werkstattleiters so schnell wie möglich einarbeiten. Natürlich will ich danach versuchen, Prozesse und Abläufe weiterzuentwickeln. Ein konkretes Projekt wird dabei sicherlich die Optimierung der Mitarbeiter-Ausbildung sein.
Was sagt Ihre Familie dazu, dass Sie jetzt länger im Ausland sein werden?
Ich liebäugle mit einem längeren Engagement für medi for help ja schon seit zwei Jahren. Von daher war es für mein Umfeld keine große Überraschung. Mir war wichtig, dass ich die volle Unterstützung meiner Lebensgefährtin habe, und die habe ich. Klar ist es keine leichte Entscheidung, sie für ein Jahr zurückzulassen. Aber dank Internet habe ich einen guten Draht nach Hause.
Vielen Dank für das Gespräch.